applied heresy I poetologies I marginalia

Lernen, nicht mehr zu wissen, was man tut

– Apprendre à ne plus savoir ce qu’on fait

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HENRI MESCHONNIC

Lernen, nicht mehr zu wissen, was man tut

Es ist das Unbekannte, das uns führt, uns dominiert. Es macht das Denken leidenschaftlich, denn nur durch unser Unbekanntes machen wir uns an das Erforschen von uns selbst. Dieses Unbekannte in uns selbst und in unserem Denken gehört derselben Suche an wie das Unbekannte des Subjekts, das Unbekannte des Gedichts, das Unbekannte der Kunst, das Unbekannte der Sprache, das Unbekannte der Ethik, das Unbekannte der Politik.

Das Unbekannte der Gesellschaft. Es ist kein Zufall, dass es in einem Gedicht und durch einen Dichter geschieht, wenn Mandelstam 1920 in  Der Staat und der Rhythmus, das ich unentwegt, aber nicht oft genug zitiere, voraussagt, dass wir, wenn wir nicht an das Individuum –  diese spezifisch nominalistische Angelegenheit, ich würde sie sogar poetisch-nominalistisch nennen – denken, einen Kollektivismus ohne Kollektiv haben werden. Und das ist auch der politische Sinn bei Majakowski, wenn er vor dem Hintergrund und in Distanz zu einer Ideologie, die in der Liebe nur eine bourgeoise Degenerationserscheinung sieht, ein Liebesgedicht schreibt.

Das Unbekannte des Gedichts ist zuallererst, was ein Gedicht zu einem ethischen Akt werden lässt; in dem Sinn, dass sein Einsatz das Subjekt ist, die Zukunft des Subjekts, die Transformation des Subjekts von einem philosophisch-psychologischen Subjekt in das Subjekt des Gedichts. Nur wenn ein Gedicht ein ethischer Akt ist, ist es auch ein poetischer und damit zugleich politischer Akt; in dem Sinn, dass es daran arbeitet, alle Subjekte zu transformieren, zu bewirken, dass sie Subjekte werden. (…)

*

Dass das 21. Jahrhundert kein meschonnicianisches sein würde, war uns von Anfang an klar. Die Geschichte, das Gesellschaftstier drifteten in eine andere Richtung. Die digitale Kulturrevolution war nicht abgeschlossen, kein Mensch auf der Gasse konnte wissen, wohin die Entwicklungen führen würden – Epoche umfassender Ungewissheit.

Mit dem Subjekt-Begriff war kein Staat mehr zu machen. Die neuen Regelungen kamen aus der technologisch-wissenschaftlichen Ecke, die Nationalstaaten humpelten ihnen mühselig hinterher. Gerade darum erschien es notwendig, das Subjekt im Zusammenwirken mit seiner Sprache und Geschichte noch einmal genauer anzusehen.

Da war etwas in der Meschonnic-Materialität, das jetzt, genau jetzt in dieser Phase des Umbruchs gebraucht wurde, eine Substanz, die uns angesichts der täglichen Kämpfe und Zwangslagen unverzichtbar erschien; ein unvergleichliches Destillat aus Poetik, Linguistik und politischer Stellungnahme.

*

Auf Meschonnic kann man nur in voller Fahrt aufspringen. Sein dreiwertiges Werk ist nur auf den drei unterschiedlichen Pisten zu erschließen: Meschonnic, der Lyriker, der Übersetzer, der Sprachwissenschafter mussten je einzeln durchmessen werden.

 

 

 

 

 

 

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