Drei Wege zu Kafka – Groethuysen
– Drei Wege zu Kafka: Groethuysen – Deleuze/Guattari – L.Margantin, Œuvres ouvertes
1/3
„Reinster Kafka”, antwortete der zirka vierzigjährige Charakterkopf, als wir ihn fragten, was denn ihn hierher verschlagen hatte. Wir sind ihm an einem Ort begegnet, an dem Leute ihr Glück versuchen, die es aus irgendeinem Grund schwer haben Arbeit zu finden. Die Antwort war ihm offensichtlich nicht leicht gefallen. Weil ihm in diesem Augenblick alles zu weitläufig erschien, er aber trotzdem punktgenau antworten wollte, entschied er sich für diese Version: „Alles reinster Kafka”.
Kafka war unter uns, zwischen uns. Kafka ersparte uns die Worte. Er war die ungesagte Erfahrung, die wir miteinander teilten. – Aber was macht eine solche Erfahrung aus? Wie lässt sie sich beschreiben, wie lässt sie sich sagen?
Wir versuchen es in konzentrischen Kreisen, wobei Kafkas Sätze und Satzverkettungen den Kreismittelpunkt bilden. – Der Weg führt von der Kafka-Erfahrung, die Bernard Groethuysen in seinen beiden Essays Aus Anlass Kafkas (1933) und Phänomenologie Kafkas (1947) nachgezeichnet hat, über Gilles Deleuzes und Félix Guattaris unverzichtbare Abhandlung Für eine kleine Literatur (1975) zu Laurent Margantin, der in diesen Tagen und Jahren eine kritische Ausgabe von Kafkas Tagebüchern herausgibt und die Leser auf Œuvres ouvertes daran teilnehmen lässt.
*
„Du bist nicht in der Welt. Die Welt ist über dir, und du selbst wohnst irgendwo ganz unten. Dort bist zu Hause und kannst dir deine Zuflucht einrichten, die dir gehört und wo nichts dich stört. Aber, um in der Welt zu sein, musst du Stufen und immer weitere Stufen erklimmen, bis du an deiner Tür ankommst. Sobald du die Schwelle überschritten hast, bist zu plötzlich im Freien und lauerst, was vorgeht.”
Groethuysen untersucht diese spezielle Positionierung, aus der heraus Kafka agiert und geschrieben hat. Dieses Bewusstsein einer diffusen Schuld, von der er sich nie würde lösen können. Wenn es zumindest einen Richter gäbe, der darüber befände, aber nein, der Richter ist zwar in jeder Sekunde gedanklich präsent, bleibt aber unauffindbar.
Worin genau besteht diese Schuld? – Offensichtlich hat sie mit einem besonderen Gebrauch des Raumes und der Zeit zu tun, oder auch mit einer partiellen Loslösung. Jemand löst sich von den gängigen raum-zeitlichen Konventionen, umgibt sich mehr oder minder freiwillig mit Stille, oder befindet sich noch auf der Suche nach ihr…
„Draußen ist Lärm. Lärm aller Art, während du nichts als Stille bist. Deshalb flößen dir die Geräusche auch Angst ein. Sie durchdringen dich ganz. Und du weißt, dass sie nicht von dir kommen können. Jedes Geräusch kommt von draußen. Es ist der Feind, der näherkommt.
Wie sollst du nun deine Stille wiederfinden? Manchmal freilich hören die Geräusche auf. Aber diese Stille, die nicht deine Stille ist, ist beängstigender als jedes Geräusch. Es ist das Warten auf jemanden, der kommen wird. Du liegst auf der Lauer. Das Geräusch wird von dieser oder von jener Seite kommen. Gleichviel. Nie mehr findest du deine Stille wieder.” (S. 105)
*
Zwischendurch ein paar Worte zu Bernard Groethuysen, dem ‚heimlichen Klassiker‘ der Kultur- und Sozialwissenschaft und der Philosophie; er wurde 1880 als Sohn einer russischen Mutter und eines niederrheinischen Vaters in Berlin geboren und studierte in Berlin und Wien, u. a. bei Wilhelm Dilthey und Georg Simmel; in den 1920er Jahren verließ er Deutschland und wechselte nach Frankreich. Sein Freund Jean Paulhan beschrieb ihn so:
„Groethuysen zog seiner ganzen Natur nach die Fragen den Antworten vor. Oder vielmehr, er hatte keine Ruhe, bis er hinter jeder Antwort die Frage entdeckte, die jene ausgelöst hatte: er war ununterbrochen auf der Suche nach einem Gedanken, der nicht das Denken zum Stillstand bringt, und vertraute im übrigen auf den Geist, in der festen Überzeugung, dass es keine Idee gibt – sie möge noch so absurd oder verrückt erscheinen –, die nicht ein feiner Faden mit den anderen Ideen verbindet.”
Der eher zurückhaltende ‚Groute‘, so nannten ihn seine Freunde, hätte laut Paulhan in keinem Moment gezögert, gewisse „Feinde der Freiheit” ins Gefängnis stecken zu lassen. Allerdings hätte er sie dort jeden Tag besucht – „um ihnen Orangen zu bringen und sich mit ihnen zu unterhalten. Zuletzt hätte er sein ganzes Leben im Gefängnis zugebracht.”
Wer wäre besser geeignet, sich der Ausnahmeerscheinung Kafka an die Fersen zu heften als diese ruhelos rauchende und außerordentlich liebenswürdige Ausnahmeerscheinung Groethuysen.
*
„Wir leben nur in einer der Welten, der unseren”, begann Groethuysen sein Vorwort zur französischen Ausgabe von Kafkas Der Prozess (Le procés). Wer ihr angehört, bewegt sich darin wie ein Fisch im Wasser, alles Sichtbare und Spürbare versteht sich von selbst.
„Aber es gibt auch Abenteurer, die es gewagt haben, sie zu verlassen und Welten betraten, die nicht bereit waren, sie aufzunehmen. Die meisten von ihnen verirrten sich dabei und mussten in den Asylen Zuflucht suchen, die die Bewohner dieser Erde für jene bereithalten, die ihre Heimat verlassen haben.
Aber es gibt doch auch einige, sehr wenige allerdings, die auf ihrer Reise einen hellwachen Geist bewahrten. Sie blieben wach während ihres Schlummers; sie behielten die Augen offen, während sie schliefen.
So war es bei Kafka, der während seines ganzen Lebens ein Abwesender unter uns blieb und von einer Welt zu uns sprach, die uns tief und dunkel erscheinen muß, da wir in ihr nicht auf unsere Art sehen und denken können. Aber was nahm er dort wahr? Unendlichkeit? Gott? Ungeheuer?
Nichts von alledem. Wesen wie du und ich, und die unsere Sprache sprechen. Häuser und Wege, wie man sie jeden Tag sieht, Polizisten, Bürochefs, stellvertretende Bankdirektoren und Stenotypistinnen. Man könnte meinen, man sei in Paris oder in New York. Und doch ist alles anders. (…)
Da drunten fragt man, um zu sein. Ich frage, also bin ich nicht. Ich habe mich in Frage gestellt. Aber wie da bleiben? Schließlich kann man sein Geburtsdatum nicht unbegrenzt hinausschieben. Und wenn dich inzwischen einer fragt, was du da wolltest, was antwortest du ihm? Denn schließlich bist du nicht von Natur aus dort.
Du bist nicht von hier. Das erkennt man an deinem unsicheren Blick und an der Art, in der du bescheiden tust, als müsstest du alle um Entschuldigung bitten. Du hast ein schlechtes Gewissen. Deine Fragen verraten dich. Das ist ganz bestimmt nicht dein Heimatland. Ihre Aufenthaltsgenehmigung? Sie sind verhaftet.” (S. 87)
*
Sanfte Extremisten – Wie sehr mussten ihnen die kolportierten Antworten als Ausschließungen erscheinen, ihre Kraft lag im Insistieren auf die Fähigkeit ihre jeweiligen Fragen zu stellen. Womöglich haben sich ja beide, Kafka und Groethuysen, nur eines ungewöhnlichen Mischverhältnisses von Antwort und Frage schuldig gemacht – car la réponse c’est le mystère.
*
Soviel nur als erste Witterungsprognose zur verstörenden Aktualität Franz Kafkas. Fortsetzung folgt… – Während der Arbeit an diesem Beitrag erreichte uns die Nachricht, dass die Nationalbibliothek Israels nach einem jahrelang andauernden Rechtsstreit den letzten Teil der Manuskripte Kafkas online publizieren wird. Die Freude ist groß. [BK]
***
Bernard Groethuysen, Unter den Brücken der Metaphysik. Mythen und Portraits. Mit einem Vorwort von Jean Paulhan. Aus dem Französischen übersetzt von G. H. Müller, Stuttgart: Ernst Klett Verlag, 1968. (Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Mythes et portraits, Paris: Éditions Gallimard, 1947.)

À propos de Kafka, aus Bernard Groethuysens Vorwort zu Franz Kafka, Le procès. Traduit de l’allemand d’Alexandre Vialatte, Paris: Éditions Gallimard, 1933.
Kommentar verfassen