applied heresy I poetologies I marginalia

Die Worte sind die Kreaturen der Stimme

– Les mots sont les créatures de la voix

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Über Serge Martins 2019 bei Grasset erschienenes Buch

L’Impératif de la voix, de Paul Éluard à Jacques Ancet

1
Stimmen hören

Ein Call Center Agent erzählt: Jeden Tag prasseln im Minuten-, im Sekundentakt Stimmen auf ihn ein. Diese Stimmen äußern einfache Anliegen, für die er blitzartig eine Lösung zu finden versucht. Trotz der Geschwindigkeit, in der sich diese Sprechakte vollziehen, können sie nicht losgelöst von ihrer Trägersubstanz, der menschlichen Stimme wahrgenommen werden. Noch der zornigste Anrufer gibt sich als das menschliche Wesen zu erkennen, das Ströme von Lauten auf dem langen Weg über Kehlkopf und Stimmritze, Stimmbänder, Mund-Nasen-Rachen-Raum, Zäpfchen, Gaumen, Zunge, Zähne und Lippen in die Welt hinaus entlässt.

Manchmal, erzählt der Agent, kommt es zu Erschöpfungszuständen. In solchen Momenten empfindet er das Stakkato der stimmlichen Äußerungen wie Steinwürfe, die ihn unter sich zu begraben drohen. Aber sogar in den Schwächezuständen gibt es fallweise dieses Aufhorchen: das Vernehmen einer Stimme, die ihn über das konkrete Anliegen hinaus betrifft. In diesen seltenen Fällen lässt sich in Anlehnung an Baudelaires Gedicht À une passante sagen: „Dich hätte ich verstanden, und du hast es geahnt.“

In dem berühmten Gespräch, das François Weyergans 1966 mit Robert Bresson geführt hat, hören und sehen wir den Erfinder des Kinematographen über die Macht der Stimme sprechen. Er sagt, dass er die Auswahl der Darstellerinnen seiner Filme meist anhand von Telefonaten traf. Die Telefonstimme barg alle Informationen, die er für die Auswahl seiner Modelle und die Realisation seiner Filme benötigte. Den Akteuren von Angesicht zu Angesicht gegenüber zu stehen, hätte ihn vom Wesentlichen abgelenkt.

Um sich gegen den alltäglichen Lärm zu wappnen, gibt es offenbar nur ein einziges Mittel: Den zufälligen Stimmen eine besondere, d. h. eine zu einem bestimmten Augenblick als besonders erachtete Stimme entgegen setzen. Zum Beispiel die Stimme eines Dichters oder einer Dichterin.

„Wenn wir einen großen Dichter lesen, hören wir immer seine Stimme. Die Stimme der Menschen mag schon vor Jahrhunderten zum Schweigen gebracht worden sein. Die Stimme des Dichters dagegen hört nicht auf, uns zu erreichen und uns zu bewegen.“ (Claude Roy). Und selbst dann, wenn wir die Dichter oder Dichterin gerade nicht vernehmen, klingt ihre Stimme in uns nach. Dieses Hören und Hören-Wollen der nicht-zufälligen Stimme hat nichts mit hedonistischem Zelebrieren von Dichtkunst zu tun. Eher handelt es sich um die Wahrnehmung einer im Taumel der Ereignisse frei gesetzten Potenzialität: Wo die Stimme hörbar wird, tut sich etwas auf. Etwas könnte beginnen…

2
Nahe Stimme, ferne Stimme

La voix proche, la voix lointaine – Dominique Rabaté, unter dessen Herausgeberschaft Serge Martins Buch bei Grasset erschien, hat das dritte Kapitel seiner Gestes Lyriques (2013) der Stimme gewidmet. L‘Appel de la voix, der Ruf der Stimme, die Anrufung durch die Stimme. Rabaté spürt darin der Rolle nach, die die Stimme im poetischen Geschehen spielt – anhand von Yves Bonnefoy, in dessen Werk die Stimme und ihre Spannweite der Aufmerksamkeit direkt in Szene gesetzt wird:

Ich lauschte ihr, dann fürchtete ich / sie nicht mehr zu vernehmen / die zu mir spricht oder mit sich. / Fern eine Stimme, ein Kind, das auf der Straße spielt / doch Nacht brach schon herein, und jemand ruft…

Gleich zu Beginn macht Rabaté klar, wie sehr ihn diese Stimme persönlich berührt hatte, wie er durch sie Gefahr lief, aus seiner literaturwissenschaftlichen Distanz zu kippen. Die Stimme erreichte ihn in einem sehr persönlichen Bereich. Sie war in jedem Moment beides, das Allerintimste und das schlechthin Soziale.

„Die Stimme scheint sich immer selbst zu überraschen, sich wie hinter einem Vorhang zu hören. Und es ist eine Stimme, die zugleich nah und fern ist, bei der die eigentliche Qualität der Stimme, ihre Essenz mitgesagt wird. Sie ist zugleich das Medium der Präsenz und der Absenz, eine Markierung des Konkreten und des Abstrakten, das Zeichen eines Körpers, der nicht vollständig präsent sein kann. (…) Diese zugleich nahe und ferne Stimme ist vor allem eine rufende Stimme – eine Stimme, die die Frage der Anrufung stellt.“ – Die Macht des Gedichts liegt in der Anrufung.

3
Stimme ist Beziehung (…)

 

(…)

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